Wer heute morgen in Tallinn, der estnischen Hauptstadt, nach der Silvester-Feier aufgestanden ist und mit dem Bus oder der Straßenbahn irgendwo hinfahren möchte, braucht nichts zu zahlen. Man benötigt nur eine kleine Chipkarte, um zu bestätigen, dass man ein Bürger der Stadt und somit dort gemeldet ist. Denn für die Bürger der Stadt ist der ÖPNV seit heute kostenlos. (Und für jeden, der 19 Jahre alt oder jünger ist.)
Bereits im März des letzten Jahres (2012) hatten die Tallinner entschieden, ihren Nahverkehr kostenlos zu machen und in einer Bürgerbefragung dem Vorhaben der Stadt zugestimmt. (Das Tal-Journal berichtete: Fahrscheinloser Nahverkehr: Tallinn macht es vor! )
Die Bürger der Stadt, die bereits den Nahverkehr nutzen, sparen dadurch die Monatskarte in Höhe von 18,50 Euro, was für jeden Fünften ein Zehntel des Einkommens bedeutete. Doch die Kosten allein sind der Grund für die Maßnahmen, wie die Taz berichtet:
“Denn auch
die Alternative ist nicht schön: Dass 2001 fast jeder Dritte mit Bus
oder Bahn zur Arbeit fuhr, 2012 aber nur noch jeder Fünfte, hat den
privaten Autoverkehr anwachsen lassen. Immer häufigere Verkehrsstaus und
steigende Unfallzahlen sind die Folge. Zudem leidet die Umwelt: Der
Individualverkehr ist in Tallinn für 60 Prozent der Belastung mit dem
Treibhausgas CO2 verantwortlich.”Reinhard Wolff, Tallinn zum Nulltarif, Taz vom 29.12.2012
Doch es ist nicht alles Gold, das glänzt. Das kostenlose Ticket gibt es nur für gemeldete Bewohner Tallinns, damit erhofft man sich neue Einwohner und neue Steuerzuschüsse. Das bedeutet, dass die Kosten für das Ticketing und die Kontrolle weiter bleiben. Außerdem fehlen zusätzliche Kapazitäten, um auf ein Anwachsen der Nutzerzahlen reagieren zu können, neue Busse und Bahnen werden erst Ende des Jahres oder 2014 einsatzbereit sein. Weiter bemängeln Kritiker, dass nicht im gleichen Atemzug das Autofahren unattraktiver gemacht wurde und z.B. Parkraum eingeschränkt wurde.
Tallinn hat übrigens 417.150 Einwohner, liegt also in einer ähnlichen Kategorie wie Wuppertal. Das ÖPNV-Netz verfügt über 4 Straßenbahnlinien, 50 Buslinien und 9 O-Buslinien.
Es gilt jetzt das Tallinner Experiment aufmerksam zu beobachten und zu sehen, welche Auswirkungen dort zu sehen sind. Denn die Idee des Fahrscheinlosen Nahverkehrs für Wuppertal, der ein leicht anderes Modell vorsieht, hat das Zeug, Wuppertal von einer stagnierenden, fast hoffnungslosen Stadt in eine Stadt mit Vision und Zukunftsideen zu verwandeln.
Wenig überraschend fordern heute auch die NRW-Piraten ein Modellversuch zum Fahrscheinlosen Nahverkehr.