Der fahrscheinlose Nahverkehr als Lösung vieler Probleme: Eine Betrachtung

An den Oberbürgermeister
der Stadt Wuppertal, Herrn Jung

An den Kämmerer der
Stadt Wuppertal, Herrn Slawig
An die CDU-Ratsfraktion
An die SPD-Ratsfraktion
An die Ratsfraktion von
Bündnis 90 die Grünen
An die FDP Ratsfraktion
An die Ratsfraktion der
LINKEN
Betr. Die Rolle des
Nahverkehrs im kommenden Haushaltssicherungkonzept
Sehr geehrte Damen und
Herren,
die Stadt Wuppertal
steckt in einer äußerst schwierigen finanziellen Lage: sie ist
überschuldet. Das Land NRW reicht der Stadt nun mit dem
Stärkungspakt Stadtfinanzen die Hand, um sie aus dem Schuldensumpf
zu ziehen und stellt sogar in Aussicht, dass die Stadt Wuppertal im
Jahr 2016 einen ausgeglichenen Haushalt erreichen kann. Damit die
Stadt dies erreichen kann, müssen 50 Millionen € eingespart
werden. Eine gewaltige Herausforderung für die Verwaltung, den
Stadtrat und vor allem die Bürger. Alles komme auf den Prüfstand,
erklärte der Kämmerer und dazu will ich beitragen und den Blick auf ein Feld lenken, dass
bisher vielleicht eher nicht im Fokus der Haushaltssicherung stand:
die Finanzierung des ÖPNV.
Die Einnahmen der
WSW mobil GmbH betrugen im Jahr 2008 laut Geschäftsbericht 61.241.000 € (S.19), denen Ausgaben in Höhe
von 102.164.000 € gegenüberstanden. Das Defizit des Wuppertaler
ÖPNV betrug demnach stolze 40.923.000 €, also
4/5 der Summe, die die Stadt Wuppertal in den nächsten fünf Jahren
sparen muss. Wenn es gelänge, dieses Defizit zu eliminieren, könnten
die Überschüsse aus den Energie- und Wassergeschäften der
Stadtwerke anstatt zur WSW mobil GmbH in das Stadtsäckel fließen.
1948
wurden die Wuppertaler Bahnen AG und die Gas, Wasser und E-Betriebe
der Stadt zusammengelegt, weil man erkannte, dass der ÖPNV in
Zukunft nicht mehr gewinnbringend zu betreiben war. Eine kluge und
weitblickende Entscheidung. Die Gemeinschaft aus ÖPNV, Gas, Wasser
und Elektrizität war für viele Jahre eine erfolgreiche Lösung.
Doch nun ist sie nicht mehr zeitgemäß, die Stadt braucht eine neue
Idee. Die Liberalisierung der Energiemärkte schickt die WSW in den
Konkurrenzkampf mit ganz Deutschland und unzähligen Anbietern,
sodass der ÖPNV für die WSW ein Marktnachteil ist, oder bildlich
gesprochen: ein Klotz am Bein. Der vernünftig denkende Verbraucher
wird sich bald von den WSW abwenden und sich einen günstigeren
Anbieter suchen, sei es für Strom oder Gas, denn auf dem
Energiemarkt funktioniert die Marktwirtschaft. Eine von den Fesseln
des ÖPNV befreite WSW AG wäre in der Lage auf diesem Markt zu
expandieren und durch konkurrenzfähige Angebote über Wuppertal
hinaus ein Energielieferant mit Pluspunkt zu werden und damit eine
dauerhafte, zuverlässige Einnahmequelle für die Stadt Wuppertal.
Wenn
wir nun den ÖPNV auf seine Marktfähigkeit untersuchen, müssen wir
feststellen, dass wir es mit einem Marktversagen zu tun haben. Es
gibt keinen Wettbewerb, da der ÖPNV nicht zu adäquaten Bedingungen
gewinnbringend betrieben werden kann, andernfalls würde es bereits
alternative Wettbewerber geben. Es existieren jedoch nur einige
Subunternehmen, die allein über billige Arbeitsplätze und das Alter
der Fahrzeuge um Aufträge der Verkehrsbetriebe konkurrieren. Es gibt
im Sinne des marktwirtschaftlichen Systems zwei Alternativen:
  1. Drastische Erhöhung der Fahrpreise
  2. Aufgabe des ÖPNVs, bzw. Beschränkung des ÖPNV auf gewinnbringende
    Linien
Wenn
man diese beiden Alternativen als nicht zielführend ansieht, müssen
neue, nicht marktwirtschaftliche Lösungen her. Diese Stadt war
einmal mutig und fortschrittlich, neuen Ideen gegenüber
aufgeschlossen und nur wenn wir diese Einstellung zurückgewinnen,
können wir aus ihr wieder die Schönheit machen, die sie einmal war.
Solche Ideen brauchen wir jetzt – und den Mut sie zu verwirklichen.
Das bedeutet keine Abkehr vom Kapitalismus! Es bedeutet nur
einzusehen, wo die Marktwirtschaft sinnvoll ist – und wo nicht.
Niemand käme auf die Idee Polizei oder Feuerwehr Privatunternehmen
zu überlassen. Niemand wollte die Müllabfuhr privatisieren und ein
zweites Neapel errichten. Der ÖPNV lässt sich nicht
marktwirtschaftlich betreiben, er braucht die Subvention durch andere
Geschäftsbereiche oder die Stadt.
Daraus
muss die Stadt die richtige Konsequenz ziehen – und zwar als erste
in Deutschland! Es ist Zeit die Kosten des Nahverkehrs auf die
gesamte Bürgerschaft umzulegen. Es ist Zeit für den Fahrscheinlosen Nahverkehr. Dafür gibt es zahlreiche gute
Argumente, aber es sprechen auch einige dagegen. Doch wägt man die
Vorteile gegenüber den Nachteilen ab, kann es meiner Ansicht nach
nur eine Entscheidung geben. Ich möchte an dieser Stelle darauf
hinweisen, dass ich diese Meinung schon länger vertreten habe und
sie nicht im Zusammenhang mit der Debatte um die Piratenpartei steht,
wenngleich ich das Engagement dieser Partei für dieses Ziel begrüße.
Doch
bevor in die Argumentation eingestiegen werden kann, ist es Zeit zu
rechnen:
Die
Ausgaben der WSW mobil GmbH betrugen im Jahr 2008 (s.o.) 102.164.000
€.
Legt
man diese Kosten (ohne Berücksichtigung anderer Einnahmen) auf die
Einwohner um, kostet der ÖPNV pro Bürger: (2008 waren es noch 353.308
102.164.000
€ / 353.308 = 289,16 €
Auf den Monat
umgerechnet bedeutet das: 289,16 € / 12 = 24,01 €

Hinweis: (17.12.2011): Das von mir in den vier folgenden Absätzen (kursiv) vorgeschlagene Modell einer Wohnraumsteuer ist gemäß Art.5 GG unmöglich, da bereits mit der Grundsteuer eine bundesgleiche Steuer besteht. Allerdings kann eben diese Grundsteuer dafür verwendet werden. Zur Finanzierung des Fahrscheinlosen Nahverkehrs habe ich folgende Ergänzung verfasst, die auf den Einwänden des Kämmerers der Stadt Wuppertal beruht.

Wollte man also den
Nahverkehr fahrscheinlos gestalten, müsste man eine Steuer in Höhe
von 24,01 € pro Person einführen. Im Gegenzug könnte jeder Bürger
in Wuppertal fahrscheinlos fahren. Nun scheint es ungerecht von einem
Baby 24 € einzufordern, auch ist es gegenüber Familien ungerecht
ihnen (im Fall einer vierköpfigen Familie) knapp 100 € pro Monat
abzufordern.

Deshalb der Vorschlag:
Die Stadt Wuppertal erhebt eine Steuer auf Wohnraum, sodass eine
Haushaltsabgabe entsteht, was freilich andere Ungerechtigkeiten
produziert. Der Alleinlebende wird benachteiligt, Partnerschaften und
Familien werden bevorzugt. Doch wer sich alleine eine Wohnung leisten
kann, sollte auch die Kosten tragen können, zumal nach Ablauf der
ersten Erhebung der Steuer, diese Kosten Teil der Miete sein werden.

Die Rechnung:
Im März 2009 gab es in
Wuppertal 181.000 Haushalte
102.164.000
€ / 181.000 = 564,44 €
Auf
den Monat umgerechnet: 564,44 € / 12 = 47,04 €

Wir
halten fest: Mit 47 € pro Haushalt pro Monat kann man den ÖPNV im
Status Quo finanzieren. Für den Single bedeutet das 47€ pro
Person, für ein Ehepaar 23,50 € pro Person, damit liegt der
fahrscheinlose Nahverkehr noch günstiger als das Sozialticket desVRR (29,90 €/Person/Monat)
Der
fahrscheinlose Nahverkehr ist auch für die Abonnenten des VRR
günstiger, das billigste Ticket in Wuppertal, das Ticket 1000 9 Uhr
kostet im Abonnement 38,37 € .
Der fahrscheinlose ÖPNV,
der als Haushaltsabgabe über eine Wohnraumsteuer finanziert wird,
sorgt dafür:
  • dass alle Bürger
    Wuppertals mobil sind
  • dass das Defizit des
    Nahverkehrs verschwindet
  • dass der ÖPNV
    wieder Raum zur Entwicklung bekommt
  • dass die Stadt die
    Überschüsse aus dem Energie- und Wassergeschäft der WSW für den
    Haushalt nutzen kann
  • dass Wuppertal
    zukunftsfähig wird
  • dass Wuppertal
    umweltfreundlicher wird
  • dass sich die
    Belastungen im Haushalt durch die Bereitstellung der Infrastruktur
    des Autoverkehrs reduziert, wenn mehr ÖPNV genutzt wird
  • dass die Ausgaben in
    einigen Bereichen sinken, da die Kosten für Ticketing und der
    Verfolgung von Schwarzfahrern wegfallen. Automaten werden nicht mehr
    gebraucht, Kontrolleure auch nicht, und man kann den Busverkehr
    wieder beschleunigen, da der Vordereinstieg wegfallen kann
  • dass der Autoverkehr
    reduziert wird und die Lebensqualität gesteigert wird
  • dass die CO2- und
    Lärm-Emissionen gesenkt werden
  • dass es weniger
    Staus für diejenigen gibt, die weiter den PKW nutzen, wenn mehr
    ÖPNV genutzt wird.
Als Kritik kann man gegen
den fahrscheinlosen Nahverkehr anführen:
  • Die Bürger werden
    mit 47 € pro Haushalt über die Gebühr belastet
    Zweifelsohne stellt
    diese Steuer vor allem für Alleinlebende eine harte Belastung dar.
    Es ist zu prüfen wie groß die Zahl derer ist, denen man aufgrund
    ihrer persönlichen Situation (Rentnern, Hartz IV, etc.) eine zu
    große Belastung aufbürdet. Doch im Gegenzug darf man nicht
    übersehen, dass auch Kosten reduziert werden: Auf der einen Seite
    fallen für die bisherigen Nutzer des ÖPNV die Kosten für den
    Fahrschein weg (bzw. werden reduziert), auf der anderen Seite sind
    die WSW auch in der Lage ohne die Belastung durch die WSW mobil GmbH
    günstigere Strom- und Gaspreise anzubieten – wie stark diese
    Ersparnis ist, entzieht sich meiner Beurteilungskraft und wäre zu
    prüfen. Eventuell könnte man auch über die WSW eine
    Subventionierung derjenigen, die nicht in der Lage sind, die Last zu
    tragen, gestalten.
  • Pendler und
    Touristen zahlen nichts für eine Leistung, die von den Bürgern der
    Stadt Wuppertal finanziert wird.
    Das stimmt. Als
    Gegenargument kann man anführen, dass auch PKWs aus anderen Städten
    keinen Cent zur Straßenerhaltung beitragen. Um Touristen
    heranzuziehen, zumindest diejenigen, die in Wuppertal übernachten,
    könnte man nach dem Vorbild der Kölner Bettensteuer mit einer
    5%igen Steuer auf den Zimmerpreis einen angemessenen Beitrag
    hereinholen.
    Die Pendler, dass sollte
    man nicht vergessen, tragen als Berufspendler über die
    Gewerbesteuer zu den Steuereinnahmen der Stadt Wuppertal bei.
    Ergänzung vom 17.12.2011: Wählt man als Finanzierung die Grundsteuer, steuern die Betriebe zusätzlich darüber zur Leistungsfähigkeit des Nahverkehrs bei – und damit auch die Pendler.
  • Wenn der Nahverkehr
    „kostenlos“ ist, wird der Nahverkehr aufgrund des
    Fahrgastandrangs kollabieren.

    Das ist unwahrscheinlich, der
    Mensch hat sich viel zu sehr auf das Leben mit dem Auto eingestellt.
    Natürlich sind Fahrgastzuwächse zu erwarten und eventuell muss die
    Steuer erhöht werden, um auf den Andrang zu reagieren. Dafür
    fallen andere Kosten weg: Die Straßen werden weniger belastet. Der
    Professor für Raumentwicklung an der Universität Trier, Heiner
    Monheim, erklärte im Januar 2010 in einem Interview:
    […]Das Defizit des Autoverkehrs beträgt 160 Euro
    pro Kopf und Jahr, nur auf kommunaler Ebene.[…]
    Sollte
    der Nahverkehr stark ansteigen, sinken dafür die Kosten im
    Tiefbauamt.
  • Diejenigen, die
    S-Bahn innerhalb Wuppertals fahren, werden benachteiligt.
    Da die S-Bahn zwar Teil
    des Wuppertaler Nahverkehrs, aber nicht Teil der WSW mobil GmbH ist,
    bleibt sie in dem Modell kostenpflichtig. Ob es über eine pauschale
    Abgabe an den VRR möglich wäre, auch den S-Bahn-Verkehr
    fahrscheinlos zu machen und wie hoch diese Pauschale wäre, entzieht
    sich meiner Kenntnis.
  • Der fahrscheinlose
    Nahverkehr endet an den Stadtgrenzen, wie geht es mit dem
    städteübergreifenden Linien weiter?
    Das ist in der Tat ein
    Problem, aber kein nicht lösbares. Schlimmstenfalls müssten
    Fahrgäste an den Stadtgrenzen umsteigen, wahrscheinlicher ist aber
    eine finanzielle Absprache zwischen den Verkehrsbetrieben, die Linie
    615 wird beispielsweise heute schon von den WSW und SR gemeinsam
    betrieben.
  • Wer entscheidet über
    das Angebot des Nahverkehrs? Der Stadtrat?
    Ein interessanter
    Einwand. Ist der Stadtrat das geeignete Medium dafür? Ja. Denn er
    erhebt die Steuer und wenn er bestimmt, dass die Steuer nur noch 15€
    betragen soll und dementsprechend das Angebot so gering sein soll,
    dann ist das so. Nichtsdestotrotz dürfte ein Fahrgastbeirat eine
    sinnvolle Einrichtung sein.
  • Wo bleibt bei einer
    Zwangsabgabe der Anreiz zur Wirtschaftlichkeit?
    Das ist ein nicht zu
    unterschätzendes Problem. Man muss eine Unternehmensform schaffen,
    die eine wirksame Kontrolle durch Stadtrat und Bürgerschaft
    ermöglicht, dafür muss größtmögliche Transparenz geschaffen
    werden. Ein Bürgerbeirat mit demokratischer Legitimation durch
    z.B.Wahlen wäre eine Option. Auf keinen Fall dürfen die
    Führungspostionen in diesen Unternehmen zu Versorgungsposten der
    Parteien verkommen.
Zusammenfassend liegen
meiner Meinung nach die Vorteile des fahrscheinlosen ÖPNV – wie
bereits im belgischen Städtchen Hasselt
wunderbar funktioniert – klar auf der Hand. Die Zahl der Gewinner
ist größer als die Zahl der Verlierer. Die Stadt Wuppertal würde
sich mit einer Entscheidung für den fahrscheinlosen Nahverkehr für
eine bessere Verkehrspolitik aussprechen, den Gedanken des
Umweltschutzes nachhaltig und vorbildlich präsentieren, die
Stadtwerke an die gegebenen martwirtschaftlichen Umstände der Märkte
anpassen und könnte mit derselben Maßnahme einen gewaltigen Schritt
in Richtung eines ausgeglichenen Haushalts machen. Der Stadtrat würde
den Bürger eine große Belastung auferlegen – aber nicht ohne
Gegenleistung! Alle andere Maßnahmen eines
Haushaltssicherungskonzeptes beinhalten Kürzungen und Steuererhöhung
ohne jeglichen Mehrwert.